1  Was ist Politikwissenschaft?

“Research is formalized curiosity. It is poking and prying with a purpose.” (Hurston 1984, p. 174)

Keywords
  • Wissenschaft
  • Politik
  • Politikwissenschaft
  • polity, politics, policy
  • Überprüfbarkeit
  • Nachvollziehbarkeit

1.1 Überblick

Um politikwissenschaftlich arbeiten zu können, das heißt, um ein politikwissenschaftliches Problem zu erkennen, daraus abgeleitet ein Erkenntnisinteresse zu formulieren und Antworten auf dieses zu finden, sowie politikwissenschaftliche Fachliteratur lesen und bearbeiten und um selber wissenschaftlich schreiben und präsentieren zu können, muss man zunächst einmal verstehen, was Politikwissenschaft überhaupt ist. Ziel dieses Kapitels ist es daher zu klären, was Wissenschaft an sich ausmacht und worin das Besondere an der Politikwissenschaft besteht. Dazu werde ich in einem ersten Schritt zunächst auf den Begriff und die Merkmale von Wissenschaft eingehen. Im zweiten Schritt werde ich erörtern, was unter dem Begriff “Politik” verstanden wird, um dann im dritten Schritt beide Begriffe zusammenführen zu können.

Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf dem dritten Punkt, der Frage “Was ist Politikwissenschaft?”. Ich werde kursorisch darlegen, mit welchen “Lupen” wir uns der sozialen Welt, die uns umgibt, nähern, welche Problemstellungen wir in diesem Fach identifizieren, welche Forschungstraditionen sich entwickelt haben und wie wir diese soziale Welt als solche überhaupt begreifen können. Erst wenn diese Fragen geklärt wurden, können wir uns in den nachfolgenden Kapiteln darauf konzentrieren, politikwissenschaftliche Problemstellungen und Erkenntnisinteressen zu identifizieren und diese anschließend systematisch und regelgeleitet zu untersuchen.

1.2 Was ist Wissenschaft?

Das Oxford English Dictionary definiert “science” (also Wissenschaft) als “the systemic study of the structure and behavior of the physical and natural world through observation and experiment” (Waite 2012, p. 648). Auch wenn diese Definition sehr stark naturwissenschaftlich geprägt ist und die soziale Welt vernachlässigt, zeigt sie doch, was Wissenschaft an sich auszeichnet. Wissenschaft ist der Versuch, die Welt um uns herum (sei sie objektiv gegeben oder sozial konstruiert - auf den Unterschied werde ich noch in weiterer Folge genauer eingehen) systematisch und regelgeleitet zu untersuchen.

Wissenschaft tut das, indem sie zunächst Problemstellungen formuliert und aufbauend darauf Erkenntnisinteressen ableitet Jede/r von uns kennt die Geschichte von Sir Isaac Newton, dem der Legende zufolge ein Apfel auf den Kopf gefallen sein soll. Newton nahm dieses Phänomen zum Anlass, um sich die Frage zu stellen, warum Äpfel (und andere Gegenstände) nach unten fallen und nicht zum Beispiel nach oben, oder nach links oder gar nach rechts.

Abbildung 1.1: Sir Isaac Newton (Quelle: https://media.snl.no/media/58809/article_topimage_isaac-newton.jpg)

Er beantwortete diese Frage, indem er eine Regelmäßigkeit aufstellte. In diesem Gravitationsgesetz postulierte Newton, dass sich zwei Körper proportional zum Produkt ihrer beiden Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat ihres Abstandes anziehen:

\[F = G \cdot \frac{m_1 \cdot m_2}{r^2}\]

Damit konnte Newton nicht nur erklären, warum Äpfel nach unten fallen, sondern auch warum sich die Sterne, Planeten und ihre Begleiter in unserem Sonnensystem so bewegen, wie sie es tun. Newton wurde nicht dafür bekannt, dass er die Begebenheit mit dem Apfel an sich der Nachwelt überliefert hat (zum Beispiel in Form einer dramatischen Erzählung wie “Der Tag an dem mich ein Apfel traf”). Newtons Bekanntheit beruht auf seiner Leistung, aus dieser einfachen Beobachtung eine wissenschaftliche Problemstellung zu erkennen (“Gegenstände fallen zu Boden und können damit zu Verletzungen führen.”) und daraus abgeleitet ein Erkenntnisinteresse zu formulieren (“Warum fallen Gegenstände nach unten und nicht in eine andere Richtung?”).

Wissenschaft ist daher zunächst nicht die deskriptive Beschreibung von Begebenheiten und Entwicklungen1, sondern der Versuch den Ursachen und Besonderheiten dieser Phänomene auf den Grund zu gehen, sie zu verstehen und zu erklären (Hollis und Smith 1991). Um diese Antworten zu erbringen, geht Wissenschaft systematisch und regelgeleitet vor. Es werden nicht einfach wahllos Meinungen abgegeben und Behauptungen aufgestellt, sondern es wird danach gestrebt, diese Meinungen und Behauptungen zu begründen und die Begründungen mittels Belegen (die aus der Fachliteratur oder eben über Beobachtungen bzw. Experimente generiert werden) abzusichern. Dieser letzte Punkt ist ein ganz entscheidender. Wissenschaft ist ein Unterfangen, bei dem es um die lückenlose Offenlegung von Daten und Analyseschritten geht. Erst dieses Prinzip der Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis ermöglicht es anderen Wissenschafter:innen, Forschungsergebnisse zu überprüfen und nachvollziehen zu können. Erst dann, wenn die Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit gewährleistet ist, können Forschungsergebnisse bestätigt oder widerlegt werden und Wissen akkumuliert werden (Powner 2015, p. 3).2

  • 1 Wobei natürlich auch Deskription als Teil des Forschungsprozesses eine wichtige Rolle spielt. Siehe dazu zB Gerring (2012, pp. 141-155).

  • 2 Das Thema Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Forschung wird im Kapitel 2 zu “Open Science” noch ausführlicher behandelt.

  • Ziel dieses Buches ist es daher, Ihnen unter anderem beizubringen, neugierig zu sein, politikwissenschaftliche Phänomene zu hinterfragen, nach deren Ursachen und Auswirkungen hin zu untersuchen, Behauptungen aufzustellen und diese Behauptungen mit Hilfe von empirischen Daten (gesammelt mittels Beobachtungen oder Experimenten) oder anderen Belegen zu stützen.

    1.3 Was ist Politik?

    Nachdem nun eklärt wurde, was die Kennzeichen von Wissenschaft sind, werde ich in weiterer Folge erläutern, was man unter Politik versteht. Es gibt zahlreiche Definitionen von Politik. So war Harold Lasswell (1951 [1936]) zum Beispiel der Ansicht, bei Politik gehe es darum zu klären, “Who gets what, when, how?”. Nach Marx und Engels (1992 [1848], p. 59) ist Politik bzw. politische Macht wiederum “merely the organised power of one class for oppressing another”. Garner (2009, p. 2) versteht unter Politik hingegen einen Prozess, “by which groups representing divergent interests and values make collective decisions.” Ähnlich formuliert es Keohane (2009, p. 359) wenn er schreibt: “I define politics as involving attempts to organize human groups to determine internal rules and, externally, to compete and cooperate with other organized groups; and reactions to such attempts.”

    Politik hat also unweigerlich mit der Frage zu tun, wie die begrenzten Ressourcen unserer Welt verteilt werden. Politik ist jener Prozess, der diese Verteilung regelt und sich damit von anderen Lösungsmöglichkeiten (zB der schieren Gewaltanwendung) abhebt. Politik entsteht daher zwangsläufig erst dann, wenn Menschen aufeinandertreffen. Einer alleine kann nicht politisch sein, sondern braucht dazu zumindest ein Gegenüber. Wie Hannah Arendt (2003, pp. 9-11) zurecht betont, beruht Politik auf der “Tatsache der Pluralität der Menschen” und “handelt von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen”. Wären alle Menschen gleich und hätten sie alle die gleichen Interessen und Wertvorstellungen, bedürfte es keiner Verregelung ihrer Beziehungen. Weil dem aber nicht so ist, braucht es eben die Politik, um das Zusammenleben der Menschen so friedvoll wie möglich zu gestalten und Mechanismen zur Konfliktvermeidung und -bearbeitung zur Verfügung zu stellen.

    Wir treffen auf Politik daher auch in den unterschiedlichsten Lebensbereichen und Sphären. Wie die beiden folgenden Tweets3 zum Beispiel zeigen, ist die Frage, inwiefern Bereiche der kritischen Infrastruktur (wie zum Beispiel der Strom- und Energiemarkt) verreguliert werden sollen oder nicht, keine eindeutige. Der frühere Bundeskanzler und SPÖ-Parteichef fordert im folgenden Tweet eine stärkere Verregulierung des Marktes und mehr staatliche Eingriffe:

    Als Antwort darauf entgegnet Franz Schnellhorn (Leiter des wirtschaftsliberalen Think Tanks Agenda Austria), dass es wohl angebrachter sei in das Unternehmen “Wien Energie” einzugreifen und es aus der staatlichen Hand (dh der Stadt Wien) zu befreien, anstatt in den Markt einzugreifen.

    Es gibt in dieser Frage keine richtige oder falsche Position. Es gibt nur unterschiedliche Optionen, wie man Energiemärkte und Unternehmen in diesen Märkten strukturiert und organisiert. Für welche Option sich ein Staat bzw. eine Gesellschaft schlussendlich entscheidet, hängt vom Ergebniss des politischen Prozesses ab. Welche Gruppe kann sich mit welchen Mitteln wie durchsetzen? Das Ergebnis selber ist aber nicht in Stein gemeißelt, sondern kann sich jederzeit wieder ändern, wenn sich neue Mehrheiten für andere Optionen ergeben.

    Politik setzt sich daher mit den Fragen auseinander, wer die Macht und die Autorität hat, diese Prozesse zu beeinflussen, welche Mittel und Wege der Einflussnahme es überhaupt gibt und wie sich Gesellschaften und Gruppen organisieren, damit sie solche Verteilungsfragen verregeln und in gelenkte und gewaltfreie Bahnen bringen können.

    1.4 Was ist Politikwissenschaft?

    Damit wären wir auch schon bei der Frage angelangt, was Politikwissenschaft genau ist. Politikwissenschaft ist jene Wissenschaft, die versucht diese politischen Prozesse der Verregelung und deren Auswirkungen auf die Menschen und deren unterschiedlichen Organisationsformen zu untersuchen. Politikwissenschaft ist deshalb eine Wissenschaft, weil sie versucht dies systematisch und nach klaren Regeln zu tun, wie Stoker und Marsh (2002, p. 11) schreiben (“political science is science in the sense that it offers ordered knowledge based on systematic inquiry”) bzw. wie Keohane (2009, p. 359) argumentiert (“Political science is the study of politics through the procedures of science”).

    Unter dem Begriff Politikwissenschaft versammeln sich aber mehrere Teildisziplinen, Wissenschaftstraditionen und unterschiedliche Vorgehensweisen, wie man an den Untersuchungsgegenstand – nämlich Politik – in all seinen Ausprägungen herantreten kann.

    Da gibt es zunächst die klassische Trias der Politikwissenschaft, bestehend aus den drei Teildisziplinen: der Politischen Theorie, der Untersuchung von Institutionen und Prozessen (oder Vergleichende Politikwissenschaft) und der Internationalen Beziehungen. Die Politische Theorie rückt die konzeptuelle Analyse von Ideen und Weltbildern in den Mittelpunkt und versucht zu zeigen, welche Ideen vom “Politischen” Menschen und Gesellschaften geprägt haben und immer noch prägen. Die Vergleichende Politikwissenschaft fokussiert sich hingegen mehr auf die von Menschen gegründeten politischen Institutionen und versucht deren Prozesse zu erklären und zu bewerten. Die Internationalen Beziehungen konzentrieren sich hingegen auf die Beziehungen zwischen organisierten Gruppen (vor allem Staaten) auf internationaler Ebene und zeigen, wie dieses Zusammenleben organisiert und verregelt ist.

    Diese Teildisziplinen betrachten den Untersuchungsgegenstand – also Politik – aus unterschiedlichen Blickwinkeln (Patzelt 1997, pp. 23-25). Im Englischen werden diese Dimensionen mit drei unterschiedlichen Begriffen bezeichnet – polity, politics und policy. Polity meint dabei die politische Verfasstheit bzw. die Struktur, in der Politik gemacht wird. Politics hingegen rückt den Prozess von Politik in den Mittelpunkt und fragt, wie politische Ergebnisse überhaupt zustanden kommen. Policy wiederum versucht die Inhalte unterschiedlicher Politiken zu bewerten und zu erklären. Diese drei Begriffe drücken damit drei verschiedene Facetten von Politik aus, die eben unabhängig voneinander oder in ihrem komplexen Zusammenspiel untersucht werden können.

    Diese Untersuchungen können dabei entweder stark normativ orientiert sein und aufzeigen, wie eine politische Ordnung idealer Weise verfasst sein sollte. Im Gegensatz dazu verfolgen empirisch-analytische Studien weniger ein Idealbild von Politik, sondern versuchen vielmehr den Ist-Zustand ohne normative Wertung zu beschreiben und zu erklären. Diese empirisch-analytischen Ansätze können dabei entweder versuchen deduktiv vorzugehen, indem sie Phänomene abgeleitet von Theorien erklären, oder indem sie induktiv durch die Beobachtung einzelner Phänomene zu generalisierbaren Aussagen kommen (die folgenden Beispiele werden noch genauer auf diese Punkte eingehen, siehe dazu auch Gerring 2012, pp. 173-175).

    Über allem steht schlussendlich die Frage nach der Ontologie und der Epistemologie. Aus ontologischer Sicht stellt sich nämlich die Frage, wie die Welt um uns herum überhaupt beschaffen ist. Ist sie objektiv gegeben, ist sie sozial konstruiert oder ist sie die Summe aus dem Zusammenspiel von beidem? Aus epistemologischer Sicht müssen wir uns hingegen fragen, wie wir uns Wissen über diese Welt aneignen können. Können wir mit Hilfe von naturwissenschaftlich inspirierten Instrumenten Phänomene erklären (dh können wir unsere Umwelt quasi “messen”), oder müssen wir mit interpretativen Ansätzen arbeiten, um die Welt um uns herum zu verstehen (siehe dazu auch Hollis und Smith 1991)? Almond und Genco (1977, p. 489) sind daher der auch Überzeugung, dass wir aufgrund der Komplexität und Heterogenität der sozialen/politischen Wirklichkeit uns nicht auf ein einziges “wahres” Modell zur Erklärung dieser Phänomene beschränken können, sondern eine Vielzahl unterschiedliche Erklärungsansätze brauchen.

    1.5 Drei Beispiele

    Ich möchte mit Hilfe von drei Beispielen verdeutlichen, wie diese unterschiedlichen Teildisziplinen bzw. Sichtweisen zusammenspielen. Diese Beispiele zeigen zudem, wie vielfältig Problemstellungen und Erkenntnisinteressen in den Teildisziplinen der Politikwissenschaft sein können. Sie zeigen, was normative und was empirisch-analytische Forschung kennzeichnet, wie deduktiv und wie induktiv vorgegangen wird und wie die soziale Welt um uns herum verstanden werden kann.

    Das erste Beispiel stammt aus dem Bereich der Politischen Theorie. Thomas Hobbes’ (1998) Leviathan gilt als eines der Referenzwerke der “Politischen Theorie” und wird Studierenden im Laufe ihres Studiums noch öfters begegnen. Thomas Hobbes (1588-1679) war ein englischer Staatstheoretiker, der nachhaltig vom englischen Bürgerkrieg (1642-1649) geprägt wurde. Hobbes musste in dieser Phase miterleben, wie der englische Staat nicht dazu in der Lage war, seine Bürger:innen zu schützen, die den Kriegswirren und der Gewalt willkürlich ausgesetzt waren. Aus der “Beobachtung” dieses Phänomens ergab sich für Hobbes die Problemstellung, dass Bürger:innen im England des 17. Jahrhunderts der Willkür und Unsicherheit ausgesetzt waren. Er formulierte daher das Erkenntnisinteresse, wie ein Staatswesen organisiert sein müsse, um der Bevölkerung Schutz vor Gewalt und Willkür zu bieten. Hobbes suchte damit also nach der idealen politischen Verfasstheit (“polity”) eines Staates.

    Abbildung 1.2: Buchcover von Thomas Hobbes’ Leviathan (1651) (Quelle: https://commons.wikimedia.org/)

    Hobbes beantwortete diese Frage, indem er das Idealbild eines Staatswesens formulierte (“aufgeklärter Absolutismus”), indem Monarch und Bevölkerung einen Vertrag abschließen. Aufgabe des Monarchen laut dieses Vertrages ist es, der Bevölkerung Schutz zu bieten. Im Gegenzug treten die Bürger:innen Freiheitsrechte (die Freiheit tun und lassen zu können was sie wollen) an den Monarchen ab. Der Staat, verkörpert durch den Monarchen, erhält also das Gewaltmonopol und verspricht im Gegenzug dieses zum Wohl seiner Bürger:innen einzusetzen. Ist der Monarch jedoch nicht gewillt, seine Vertragsverpflichtungen einzuhalten, so verliert er auch den Anspruch rechtmäßiger Vertreter der Interessen der Bevölkerung zu sein und damit seinen Anspruch auf den Thron. Hobbes Idealbild eines Staatswesens ist daher eindeutig ein wertendes. Damit ordnete er sich in die normative Tradition der Politikwissenschaft ein. Sein Vorgehen ist wiederum induktiv, weil er aus der Beobachtung eines politischen Phänomens eine Theorie formuliert, wie ein solches Idealbild aussehen könnte. Tabelle 1.1 fasst die unterschiedlichen Facetten politiktwissenschaftlicher Forschung anhand dieses Beispiels noch einmal zusammen.

    Tabelle 1.1: Facetten politikwissenschaftlicher Forschung am Beispiel Hobbes (1998)
    Facetten von Politikwissenschaft konkretes Beispiel
    Teildisziplin Politische Theorie
    Dimension polity
    Wissenschaftsverständnis normativ
    Ontologie & Epistemologie objektiv gegeben
    Vorgehensweise induktiv

    Das zweite Beispiel stammt aus dem Bereich der politischen Institutionen und Prozesse. Kukkonen und Ylä-Antilla (2020) argumentieren in ihrer Studie, dass die finnische Politik gegenüber dem Klimawandel maßgeblich durch eine Expert:innen-Debatte geprägt wurde. Während zu Beginn dieser Debatte im Jahre 2002 die meisten Expert:innen dem Wirtschaftswachstum eine größere Bedeutung beigemessen haben als Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels, hat sich diese Haltung bis zum Jahr 2015 umgekehrt. Die Autor:innen dieser Studie argumentieren daher, dass die Änderungen der finnischen Klimaschutzpolitik maßgeblich durch den Wandel der Einstellungen von Expert:innen mitbeeinflusst wurde. Kukkonen und Ylä-Antilla (2020) geht es also nicht darum zu klären, ob diese oder jene Politik besser sei, sondern sie wollen empirisch-analytisch beschreiben und erklären, wieso es zu diesem Politikwandel kam. Um diesen Prozess (“politics”) zu erklären, gehen sie deduktiv vor, das heißt, sie verwenden einen theoretischen Ansatz, um den Wandel von Politiken erklären zu können. Im konkreten Fall handelt es sich dabei um die “Discourse Network Analysis” von Philip Leifeld (Leifeld und Haunss 2012; Leifeld 2018; Leifeld, Gruber, und Bossner 2019). Dieser Ansatz argumentiert frei nach Hajer (1993), dass Politiken sich erst dann ändern, wenn es für den Wandel (also die neue Politik) eine ausreichend große Koalition von Befürworter:innen gibt, die sich im politischen Prozess gegen die Gegner:innen dieses Wandels durchsetzen können.

    Abbildung 1.3: Diskursnetzwerke der finnischen Debatte zum Klimawandel (Quelle: Kukkonen und Ylä-Antilla 2020, 209)

    Die Autor:innen stellen diese Behauptung aber nicht einfach frei auf, sondern untermauern sie mit empirischen Fakten. Sie gehen davon aus, dass es sich bei Politik (und damit auch der sozialen Welt um uns herum) nicht um etwas objektiv Gegebenes handelt, sondern das diese Welt und damit auch die Politik das Ergebnis der Konstruktion von Wirklichkeiten ist. Diese Konstruktion zeichnen sie nach, indem sie die Diskurse der Expert:innen in Netzwerken darstellen und somit zeigen können, wie die individuellen Beiträge zu einem kollektiven Diskurs werden und wie sich in diesem Prozess eine Gruppe von Befürworter:innen für stärkere Maßnahmen zum Klimaschutz gegen die Gruppe der Gegner:innen (dh die Gruppe der Befürworter:innen, die wirtschaftlichen Aspekten den Vorzug geben) durchsetzt. In Tabelle 1.2 werden die unterschiedlichen Facetten politiktwissenschaftlicher Forschung anhand dieses Beispiels noch einmal zusammengefasst.

    Tabelle 1.2: Facetten politikwissenschaftlicher Forschung am Beispiel Kukkonen und Ylä-Antilla (2020)
    Facetten von Politikwissenschaft konkretes Beispiel
    Teildisziplin Vergleichende Politikwissenschaft
    Dimension politics
    Wissenschaftsverständnis empirisch-analytisch
    Ontologie & Epistemologie soziale Welt als konstruiert und messbar
    Vorgehensweise deduktiv

    Das dritte Beispiel stammt aus dem Teilbereich der Internationalen Beziehungen und zeigt im Gegensatz zum zweiten Beispiel ein induktives Vorgehen, das die Welt um uns herum als gegeben und objektiv messbar begreift. Für Oneal, Russett, und Berbaum (2003) steht im Mittelpunkt ihrer Forschung das Problem von Krieg und Frieden. Staaten im internationalen System, so ihre Beobachtung, tragen Konflikte oft nicht mit friedlichen Mitteln aus, sondern greifen in vielen Fällen immer wieder zu Krieg und verursachen damit Leid und Tod (damit versuchen sie einerseits die Inhalte der Politik von Staaten, andererseits aber auch die Interaktion zwischen Staaten, also politische Prozesse, zu analysieren). Sie stellen sich daher die Frage, warum gewisse Staaten eher geneigt sind, Kriege gegeneinander zu führen, als andere und fragen nach etwaigen Regelmäßigkeiten (induktives Vorgehen). Oneal et al. erstellten daher einen Datensatz, indem sie in einem Zeitraum von über 100 Jahren (konkret von 1885-1992) alle Staaten und deren Außenverhalten als Dyaden (dh Staatenpaare) auflisteten, und diese Informationen mit einer Vielzahl weiterer Faktoren wie zum Beispiel dem Grad der Demokratisierung, der gegenseitigen wirtschaftlichen Verflechtung oder deren Vernetzung in internationalen Organisationen kombinierten. Durch statistische Modelle (in diesem Fall Regressionsanalysen) konnten sie Regelmäßigkeiten entdecken, die folgenden Schluss zulassen: Je demokratischer Staaten sind, je mehr Handel sie miteinander treiben und in je mehr internationalen Organisationen sie gemeinsam vertreten sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Kriege gegeneinander führen. Aus diesem induktiven, empirisch-analytischen Vorgehen lässt sich in weiterer Folge natürlich auch eine normative Theorie ableiten, die eben diese Faktoren (Demokratie, Handel, Kooperation) zu Idealvoraussetzung für ein friedvolles Zusammenleben von Staaten macht. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass normative und empirisch-analytische Forschung sich nicht ausschließen, sondern sich sogar ergänzen können. Und auch hier zeigt Tabelle 1.3 noch einmal anhand dieses Beispiels, wie facettenreich politikwissenschaftliche Forschung sein kann.

    Abbildung 1.4: Triangulating Peace Buchcover von Oneal, Russett, und Berbaum (2003) (Quelle: Amazon)

    Tabelle 1.3: Facetten politikwissenschaftlicher Forschung am Beispiel Oneal, Russett, und Berbaum (2003)
    Facetten von Politikwissenschaft konkretes Beispiel
    Teildisziplin Internationale Beziehungen
    Dimension policy & politics
    Wissenschaftsverständnis empirisch-analystisch
    Ontologie & Epistemologie objektiv gegeben und messbar
    Vorgehensweise induktiv

    1.6 Zusammenfassung

    Ziel dieses Kapitels war es zu klären, was Politikwissenschaft überhaupt ist. Um das zu erreichen, wurden zunächst die Begriffe “Wissenschaft” und “Politik” erläutert und anschließend zusammengefügt. Ich habe Politikwissenschaft daher wie folgt definiert:

    Definition von “Politikwissenschaft”

    Politikwissenschaft ist jene Wissenschaft, die versucht politische Prozesse der Verregelung und deren Auswirkungen auf die Menschen und deren unterschiedlichen Organisationsformen zu untersuchen. Politikwissenschaft ist deshalb eine Wissenschaft, weil sie versucht dies systematisch und nach klaren Regeln zu tun, wie Stoker und Marsh (2002, p. 11) schreiben (“political science is science in the sense that it offers ordered knowledge based on systematic inquiry”) bzw. wie Keohane (2009, p. 359) argumentiert (“Political science is the study of politics through the procedures of science”).

    Darauf aufbauend habe ich versucht zu zeigen, welche Teildisziplinen und Forschungstraditionen wir in der Politikwissenschaft kennen und wie wir die Welt um uns herum begreifen. Anhand von drei Beispielen habe ich schließlich demonstriert, wie vielfältig Problemstellungen und Erkenntnisinteressen, und wie unterschiedlich die Wege zur Beantwortung dieser Erkenntnisinteressen aussehen können.

    Dieses Kapitel bildet damit den Ausgangspunkt für die folgenden Kapitel. Wir werden uns in weiterer Folge viel detaillierter mit politikwissenschaftlichen Problemstellungen und Erkenntnisinteressen auseinandersetzen. Wir werden dies aber nicht nur aus theoretischer Sicht tun, sondern mit Hilfe konkreter Beispiele aus der Forschung auch in der Praxis ansehen und diskutieren.

    Weiterführende Informationen

    Literaturtipp und Arbeitsmaterialien

    Antwort (a): Wissenschaft ist der Versuch, die Welt um uns herum (sei sie nun materiell gegeben oder sozial konstruiert) zu erkunden. Die Erkundung sollte möglichst systematisch und regelgeleitet erfolgen, damit sie auch von anderen nachvollzogen werden kann.

    Antwort (c): Laut Harrold Laswell, geht es bei Politik um die Frage ‘Who gets what, when and how?’ Diese Aussage deckt im Kern genau das ab, was Politik auszeichnet. Nämlich den Versuch, in einer Welt begrenzter Ressourcen Mittel und Wege zu finden, um die Verteilung dieser Ressourcen so zu verregeln, dass dies möglichst gewaltfrei abläuft.

    Antwort (a): Die Analyse der politics-Dimension von Politikwissenschaft versucht politische Prozesse und nicht nur Strukturen und Inhalte in den Vordergrund zu rücken. Die Frage, warum ein Gesetz und nicht ein anderes vom Parlament umgesetzt wurde, wäre ein solches Beispiel, bei dem der Prozess in den Vordergrund rückt.