3  Vom Thema über das Puzzle zum Erkenntnisinteresse

Science proceeds “in an ocean of anomalies”. (Lakatos 1989, p. 53)

Keywords
  • Thema
  • Problemstellung und Puzzle
  • Erkenntnisinteresse
  • Forschungsfrage(n)
  • (Hypo)Thesen

3.1 Überblick

Nachdem ich im vorigen Kapitel geklärt habe, was Wissenschaft ausmacht, was wir unter Politik verstehen und was die Merkmale und Besonderheiten der Politikwissenschaft sind, werde ich den Schwerpunkt in diesem Kapitel auf die Frage lenken, wie ich in einem Thema ein politikwissenschaftliches Problem bzw. Puzzle (beide Begriffe werden oft synonym verwendet) identifiziere, um daraus wieder ein Erkenntnisinteresse in Form einer Forschungsfrage ableiten zu können. Dazu werde ich in einem ersten Schritt erklären, warum ein Thema alleine zu wenig ist, um eine politikwissenschaftliche Untersuchung zu beginnen. Ich werde zeigen, was ein politikwissenschaftliches Problem bzw. Puzzle ausmacht und warum es wichtig ist, ein Thema einzugrenzen und und mittels Problem/Puzzle zu spezifizieren. Darauf aufbauend werde ich im zweiten Schritt darlegen, wie man aus einem Problem bzw. Puzzle ein Erkenntnisinteresse ableitet. Dabei werde ich zeigen, auf welche unterschiedlichen Aspekte eine Forschungsfrage eingehen kann und was gute Forschungsfragen kennzeichnen. Darüber hinaus werde ich darlegen, wie Forschungsfragen in Unterfragen gegliedert werden können und welche Hierarchie von Forschungsfragen es gibt. Im dritten Schritt werde ich mich schließlich mit den prognostizierten Antworten – den (Hypo)Thesen – auf die Forschungsfrage auseinandersetzen. Ich schließe das Kapitel wieder mit einem Beispiel, anhand dessen ich die praktische Umsetzung der hier angesprochenen Punkte demonstrieren werde.

3.2 Thema und Problem/Puzzle

Ausgangspunkt einer jeden wissenschaftlichen Arbeit ist ein Thema. Wie die Beispiele des vorigen Kapitels zeigen, können politikwissenschaftlich relevante Themen breit gestreut sein. So beschäftigt sich Hobbes (1998) in seinem Leviathan thematisch mit dem englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts. Kukkonen und Ylä-Antilla (2020) haben für ihren Aufsatz das Thema Klimawandel und politische Entscheidungsprozesse gewählt. Und Oneal, Russett, und Berbaum (2003) setzen sich in ihrem Buch Triangulating Peace wiederum mit Krieg und Frieden auseinander.

Ein Thema alleine reicht jedoch nicht aus, um einen politikwissenschaftlichen Text zu verfassen, der es auch Wert ist, gelesen zu werden. In jedem Thema können viele unterschiedliche Aspekte beleuchtet werden. So muss eine Auseinandersetzung mit dem englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts nicht zwangsläufig in einem Beitrag zur politischen Theorie münden. Auch ein klassischer Film wie “Cromwell” aus dem Jahre 1970 würde unter dieses Thema fallen, auch wenn der Film nichts mit politikwissenschaftlicher Forschung zu tun hat.

Auch das Thema Klimawandel muss nicht unbedingt in einem Beitrag über die politische Auseinandersetzung zu diesem Thema in Finnland und die Rolle von Expert:innen dabei münden. Man hätte es stattdessen auch wie die Financial Times machen, und ein Online-Spiel zur stärkeren Bewusstseinsbildung progammieren können.

Ebenso muss das Thema Krieg und Frieden nicht unbedingt aus politikwissenschaftlicher Sicht beleuchtet werden, indem man nach den Faktoren sucht, die Kriege verursachen und Frieden sichern. Man könnte alternativ zu diesem Thema auch einen historischen Gesellschaftsroman schreiben, wie es Leo Tolstoi getan hat, und damit der Weltliteratur über 2.000 Seiten hinterlassen hat (siehe Abbildung 3.1).

Abbildung 3.1: Buchcover von Krieg und Frieden (Quelle: DTV)

Wie diese Beispiele zeigen, reicht ein Thema alleine daher nicht aus, um einen politikwissenschaftlichen Beitrag zu verfassen. Einem Thema alleine fehlt der klare Fokus bzw. eine Richtung, in die der Forschungsprozess gelenkt werden soll (Powner 2015, p. 6). Um das zu erreichen, braucht es ein Erkenntnisinteresse (George und Bennett 2005, p. 74), welches idealerweise in Form einer oder mehrerer Forschungsfragen formuliert ist, den Untersuchungsgegenstand definiert und die Grenzen eines Themas limitiert und damit erst bearbeitbar macht (Powner 2015, p. 6). Ohne eine Forschungsfrage kann es auch keine Antworten geben. Antworten auf Probleme sind aber im Kern das, worum es in der Wissenschaft im Eigentlichen geht (Booth, Colomb, und Williams 2008, pp. 35 und 41).

Um also von einem Thema zu einer Forschungsfrage zu kommen, braucht es noch einen Zwischenschritt. Es muss ein Problem bzw. ein Puzzle identifiziert werden, das es überhaupt wert ist, untersucht zu werden (Booth, Colomb, und Williams 2008, p. 45). Um aber entscheiden zu können, ob etwas von Bedeutung und untersuchenswert ist, muss man sich zunächst mit dem bisherigen Wissen zu den unterschiedlichen Aspekten eines Themas auseinandersetzen. Neues Wissen baut immer auf dem bereits vorhandenen Wissen auf. Um innovativ zu sein, muss man sich in einem ersten Schritt mit dem bestehenden Wissen auseinandersetzen (Gerring 2012, pp. 37-38; Powner 2015, p. 2). Erst dann ist man in der Lage, in jene Bereiche einzutauchen, von denen wir nichts oder noch zu wenig wissen (Schwartz 2008).

Wir müssen als Politikwissenschafter:innen daher vor allem neugierig sein und uns auf Aspekte eines Themas konzentrieren, in denen wir etwas neu zu Entdeckendes oder etwas Spannendes und zunächst auf den ersten Blick nicht gleich Nachvollziehbares finden. Das heißt, wir müssen in der Lage sein, in einem Thema nach einem Problem bzw. einem Puzzle zu suchen, das es zu bearbeiten und zu lösen gilt.

Die Begriffe Problem bzw. Puzzle meinen einen Zustand, “when things do not fit together as anticipated, challenging existing knowledge” (Gustafsson und Hagström 2018, p. 639). Zinnes (1980, p. 318) vergleicht solche Puzzles in der Forschung mit einem Mord, der in einem von innen abgeschlossenen Raum begannen wurde. Die Aufgabe des/der Forscher:in ist es nun, die Rolle eines/einer Detektiv:in einzunehmen und den Fall zu lösen.

Damit wird aber auch deutlich, dass nicht jede Frage, die man aus einem Thema destilliert, auch wirklich geeignet ist, um einen wissenschaftlichen Text zu verfassen. Es braucht nämlich für eine Forschungsfrage unweigerlich ein Puzzle, das es zu lösen gilt. Ohne ein Puzzle ist der Grund, warum man Forschung betreibt, nicht nachvollziehbar. Puzzles liefern also eine Begründung auf die Frage von Turabian (2007, p. 7), “so what?”. Was ist der Mehrwert, wenn ich mich mit einem Thema so intensiv auseinandersetze? Jedes Puzzle mündet unweigerglich in einer Forschungsfrage oder einem Erkenntnisinteresse. Aber nicht jede Frage entspringt zwangsläufig einem Puzzle (Zinnes 1980, p. 318). Fragen ohne ein Puzzle sind daher auch nicht geeignet, um einem Thema einen klaren und limitierenden Fokus zu geben.

Es geht also letztlich darum, in einem Thema, aufbauend auf bereits bestehendem Wissen und mit Hilfe von Neugier ein Puzzle bzw. Problem zu entdecken, das es schließlich zu lösen gilt. Daher werden Forschungsfragen formuliert, die Antworten auf das Problem/Puzzle liefern und damit unser Wissen zu dem Teilaspekt eines Themas erweitern.

Solche Forschungsfragen können dabei drei unterschiedliche Teilaspekte in den Mittelpunkt rücken. Ein erster solcher Aspekt, mit dem sich Forschungsfragen auseinandersetzen, kann ein Problem aus dem Alltag (real-world problem) sein (King, Keohane, und Verba 1994, p. 15; Gustafsson und Hagström 2018, p. 635). Triangulating Peace von Oneal, Russett, und Berbaum (2003) ist zum Beispiel so ein Beitrag, in dem sich die Autoren einem “real-world” Problem stellen und sich fragen, welche Faktoren ausschlaggebend sind, um Kriege zu vermeiden, Frieden zu sichern und wie diese Faktoren zusammenspielen.

Ein zweiter möglicher Aspekt ist ein Widerspruch, der sich im politischen Alltag ergibt oder der aus einer Unzulänglichkeit von Theorie und/oder Methode/Empirie entsteht (George und Bennett 2005, 74; Gustafsson und Hagström 2018, 635; Guzzini 2021, p. 3). Für Lakatos (1989, p. 53) sind solche Anomalien oder Gegensätze, wie am Beginn dieses Kapitels bereits zitiert, gerade die Voraussetzung, warum Wissenschaft überhaupt vorangetrieben werden kann.

So zeigen Allison und Zelikow (1999) in ihrem Buch Essence of Decision zur Kubakrise, wie bisher dominante Erklärungsansätze für politische Entscheidungen (das “rational-actor-model”) nicht ausreichen, um sowohl die Entscheidungen der Kennedy-Administration als auch die Schritte und Fehlannahmen der sowjetischen Fürhung rund um Nikita S. Chruschtschow zu erklären. Die Autoren plädieren vielmehr dafür, sich auch mit Ansätzen aus der politischen Psychologie zu beschäftigen und Modelle von Organisationslogiken und bürokratietheoretischen Ansätzen in die Außenpolitikanalyse miteinzubeziehen.

Damit ist auch schon der Übergang zum dritten Aspekt gelegt, bei dem es um das Finden und Füllen einer Forschungslücke (einer “gap”) geht (King, Keohane, und Verba 1994, p. 16; George und Bennett 2005, p. 74; Powner 2015, p. 10; Gustafsson und Hagström 2018, p. 635; Guzzini 2021, p. 2). Wissenschaft ist nicht die Wiederholung von bereits bekanntem Wissen, sondern der Versuch, dem Mosaik an Wissen ein weiteres, noch unbekanntes Teilchen hinzuzufügen.

Politikwissenschaftliche Forschung ist also dann relevant, wenn es gelingt, in einem Themenbereich ein Problem/Puzzle zu identifizieren, aus diesem ein Erkenntnisinteresse abzuleiten und dieses Erkenntnisinteresse in Form einer oder mehrerer Forschungsfragen darzustellen. Ein solches Erkenntnisinteresse bzw. die Forschungsfrage gibt einer politikwissenschaftlichen Untersuchung einen klaren Fokus und limitiert die Grenzen des Untersuchungsgegenstands. Dadurch wird es einerseits relevant, sich mit dem Untersuchungsgegenstand überhaupt auseinanderzusetzen, der damit aber auch gleichzeitig seine Signifikanz bekommt. Andererseits wird dieser Gegenstand durch den vorgegebenen Rahmen (ein Aufsatz im Umfang von 20-30 Seiten oder ein Buch mit maximal 300 Seiten) überhaupt erst bearbeitbar.

3.3 Forschungsfrage und (Hypo)These

Nachdem es also gelungen ist, in einem Thema ein Puzzle zu entdecken, geht es im nächsten Schritt darum, eine oder mehrere Forschungsfrage(n) zu formulieren. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass es einerseits Kriterien für “gute” Forschungsfragen gibt und andererseits auch ein Hierarchie unterschiedlicher Typen von Forschungsfragen. Powner (2015, pp. 12-13) nennt drei Kriterien, an denen sich gute Forschungsfragen orientieren sollten. Erstens, eine Forschungsfrage sollte open-minded sein, sprich so formuliert sein, dass die Antwort nicht schon vorgegeben ist bzw. der Forschungsprozess nicht durch die Fragestellung in eine bestimmte Richtung verzerrt wird. Daraus abgeleitet sollten Fragen zweitens mehrere Antwortmöglichkeiten zulassen und nicht einfach nur mit “ja” oder “nein” beantwortet werden können. Und drittens müssen Forschungsfragen, abgeleitet vom Puzzle, das sie ergründen wollen, so gestellt werden, dass ihre Beantwortung im Rahmen des Forschungsprojekts auch wirklich umsetzbar ist.

Neben diesen Kriterien für gute Forschungsfragen lassen sich diese auch hierarchisch unterscheiden. So argumentiert White (2009, p. 48), dass es prinzipiell zwei unterschiedliche Typen von Fragen gibt, die auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen angesiedelt sind. Deskriptive Fragen, das heißt Fragen, die mit “was”, “wann”, “wer” oder “wo” beginnen, zielen darauf ab, Sachverhalte und Prozesse zu beschreiben. Im Gegensatz dazu versuchen erklärende/verstehende Fragen, das heißt Fragen nach dem “warum” und “wie”, den Ursachen eines Phänomens auf den Grund zu gehen. Da diese Suche nach den Ursachen im Kern die Hauptaufgabe von Wissenschaft ist, sind diese erklärenden und verstehenden Fragen den deskriptiven Fragen hierarchisch übergeordnet. Das bedeutet aber nicht, dass letztere wertlos wären und man nicht auch solche Fragen stellen soll. Um Fragen nach dem “warum” oder “wie” beantworten zu können, bedarf es oftmals erst Antworten auf die Fragen, “wer” hat “was”, “wann” und “wo” getan. Es geht also darum, das ideale Zusammenspiel zwischen deskriptiven und erklärenden/verstehenden Fragen zu finden, um ein Puzzle lösen zu können.

Ziel einer jeden wissenschaftlichen Untersuchung ist es schlussendlich, Antworten auf die Forschungsfrage(n) zu finden und damit das Puzzle zu lösen. Es gibt zwei unterschiedliche Möglichkeiten diese Antwort(en) zu präsentieren. Im ersten Fall ist die Antwort das Ergebnis des Forschungsprozzeses in Form einer These (oder Haupterkenntnis einer Untersuchung) und ergibt sich somit a posteriori, also am Ende einer Untersuchung. Abbildung 3.2 zeigt ein vereinfachtes Schema eines solchen Forschungsprozesses, der in zwei Phasen unterteilt ist und bei dem die Antwort auf die Forschungsfrage am Schluss der Untersuchung steht. Wie in dieser Abbildung ersichtlich, beginnt der Forschungsprozess in der Konzeptphase mit der Wahl eines Themas, aus dem mit Hilfe von Literaturstudium und/oder abhängig von einem Kontext (dem politischen Alltag) ein Puzzle gesucht wird. Aus diesem Puzzle wird anschließend ein Erkenntnisinteresse in Form einer Forschungsfrage destilliert. In der zweiten Empiriephase wird anschließend ein Forschungsdesign ausgearbeitet (das heißt, es wird geklärt mit welchen theoretischen Modellen und methodischen Instrumenten man die Untersuchung vornimmt), die benötigten Daten erhoben und ausgewertet, und schlussendlich Antworten auf die Forschungsfrage präsentiert.

Abbildung 3.2: Forschungsprozess ohne Hypothese nach Punch (2014, p. 68)

Im Gegensatz dazu wird im zweiten Fall (siehe Abbildung 3.3) bereits in der Konzeptphase a priori eine oder mehrere prognostizierte Antwort(en) auf die Forschungsfrage in Form einer oder mehrerer Hypothese(n) (Punch 2014, p. 66) präsentiert. Diese Hypothesen ergeben sich aus einem deduktiven Vorgehen, das heißt aufgrund theoretischer Vorannahmen, die es dem/der Wissenschafter:in erlauben, eine gut begründete und wahrscheinliche Antwort auf die Forschungsfrage zu formulieren. Ziel dieser Art des Forschungsprozesses ist es, diese Hypothese(n) zu bestätigen oder zu widerlegen. Dabei muss der/die Wissenschafter:in penibel darauf achten, so vorurteilsfrei wie möglich an die Untersuchung heranzugehen. Er oder sie muss darauf achten, auch auf jene Fakten und Argumente einzugehen, die den formulierten Hypothesen widersprechen könnten. Auch wenn diese Art der Forschung oft mit quantiativer Forschung in Zusammenhang gebracht wird, können auch qualitative Forschungsdesigns Hypothesen a prori formulieren, um sie anschließend empirisch argumentativ zu bestätigen oder zu widerlegen (White 2009, p. 61).

Abbildung 3.3: Forschungsprozess mit Hypothese nach Punch (2014, p. 68)

3.4 Beispiel

Ich möchte abschließend anhand meiner Habilitionsschrift Der Irakkrieg 2003 (siehe Eder (2015)) zeigen, wie man in der praktischen Umsetzung von einem Thema, über ein Puzzle zu einem Erkenntnisinteresse in Form von Forschungsfragen kommt, und wie diese Forschungsfragen anschließend beantwortet werden können.

Abbildung 3.4: Buchcover Der Irakkrieg 2003 von Eder (2015)

Das Thema dieser Arbeit ist der Irakkrieg 2003. Wie bereits zuvor erwähnt, folgt aus diesem Thema nicht zwangsläufig eine politikwissenschaftliche Frage. Es wäre vielleicht viel spannender und sicher auch lukrativer gewesen, aus diesem Thema einen Film zu machen, wie es zum Beispiel Clint Eastwood mit American Sniper getan hat:

Oder man hätte das Thema in einem biographischen Film über einen der Hauptakteure (beispielsweise Vizepräsident Cheney dargestellt von Christian Bale) verarbeiten können, so wie es Adam McKay mit Vice versucht hat.

Damit das Thema aus politikwissenschaftlicher Sicht also relevant wird, braucht es ein dementsprechendes Puzzle. Ich habe dieses Puzzle in meiner Habilitationsschrift auf den Seiten 1 bis 43 dargelegt, indem ich einerseits einen Widerspruch im politischen Alltag identifizieren konnte (Seiten 1-8) und andererseits eine Forschungsücke in der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema (Seiten 8-43) festgestellt habe. Den Widerspruch habe ich darin gesehen, dass der Irakkrieg 2003 nicht zu mehr Sicherheit aus Sicht der USA geführt hat, sondern das Ergebnis des Krieges eine menschliche, ökonomische, geopolitische und innenpolitische Katastrophe war, wie ich mit dem folgenden Zitat argumentiert habe:

“Die Invasion der USA in den Irak 2003 kann als Paradebeispiel eines fehlgeleiteten Entscheidungsprozesses bezeichnet werden, dessen ex ante Sicht sich drastisch von jener ex post unterscheidet und dessen Auswirkungen in ihrer menschlichen, ökonomischen, geo- und innenpolitischen Dimension nicht vorhergesehen wurden.” (Eder 2015, p. 2)

Das Puzzle für diese Arbeit ergab sich aber nicht nur aus diesem Widerspruch, sondern auch aus einem “veritablen Quellenproblem” (Eder 2015, p. 8). Ich habe eine Forschungslücke dahingehend identifiziert, dass es zwar zahlreiche journalistische Auseinandersetzungen mit den Ursachen und Teilaspekten dieses Themas gibt, es jedoch an umfassenden und multiperspektivischen wissenschaftlichen Analysen mangelt. Diese beiden Punkte (der Widerspruch und die Forschungslücke) liefern die Begründung, warum eine solche Untersuchung überhaupt relevant ist.

Im nächsten Schritt musste aus diesem Puzzle ein Erkenntnisinteresse destilliert werden. Ich habe auf den Seiten 44 bis 47 dargelegt, wie ich dieses Puzzle in zwei erklärende/verstehende und sechs deskriptive Fragen aufgeteilt habe. Das zentrale Erkenntnisinteresse lässt sich mit den beiden folgenden Fragen zusammenfassen:

  1. Welche Ursachen hatte der Irakkrieg 2003?
  2. Wie lässt sich der Entscheidungsprozess für den Irakkrieg 2003 aus Sicht der US-Administration darstellen und erklären?

Um diese Fragen aber beantworten zu können, musste ich zunächst deskriptive Fragen stellen, um die einzelnen Schritte des politischen Prozesses beschreiben und analysieren zu können (siehe Tabelle 3.1). Natürlich ist der Umfang dieser Fragen an das Format (eine Habilitationsschrift von über 400 Seiten) angepasst und wäre für eine Arbeit mit nur 20 Seiten viel zu überdimensioniert gewesen. Das Beispiel zeigt aber, wie wichtig deskriptive Fragen sein können, um überhaupt Antworten auf erklärende/verstehende Fragen zu erhalten.

Schließlich habe ich in diesem Forschungsprozess nicht Hypothesen formuliert und sie getestet, sondern mit Hilfe eines theoretischen Modells und unterschiedlicher methodischer Instrumente nach Antworten auf die Forschungsfragen gesucht, die in der folgenden These mündeten:

“Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass der Entscheidungsprozess das Ergebnis individueller Wahrnehmungen und kollektiver Meinungsbildungsprozesse war und weniger mit systemischen Anreizen oder gar systemischen Druck zu tun hatte. Der 11. September übte auf alle Beteiligten einen nachhaltigen Einfluss aus. Die positive Sicht auf das internationale Umfeld sowie die Kooperationsbereitschaft verringerte sich signifikant und gleichzeitig kam es zu einem Anstieg des Misstrauens gegenüber Akteuren wie dem Irak. Diese individuellen Wahrnehmungen aggregierten sich zu einem sehr frühen Zeitpunkt (kurz nach 9/11) in der Gruppe (d.h. dem Nationalen Sicherheitsrat) zu einem homogenen Bedrohungsdiskurs, der von allen Akteuren in der Administration unumschränkt geteilt wurde” (Eder 2015, p. 46)

Wie dieses Beispiel, das ich in Tabelle 3.1 noch einmal zusammengefasst habe, schön zeigt, greifen diese Bausteine eines wissenschaftlichen Textes unweigerlich ineinander und bedingen sich gegenseitig. Ohne ein Puzzle fehlt einer wissenschaftlichen Arbeit der Fokus. Ohne ein klares Erkenntnisinteresse in Form von Forschungsfragen ist unklar, um was es überhaupt geht und welche Grenzen die betreffende Untersuchung hat.

Tabelle 3.1: Thema, Puzzle, Forschungsfragen und Antworten am Beispiel Eder (2015)
Bausteine eines wissenschaftlichen Textes konkretes Beispiel
Thema Irakkrieg 2003
Puzzle (Widerspruch) Der Krieg reduzierte die Sicherheit der USA und entpuppte sich als multidimensionale Katastrophe.
Puzzle (Forschungslücke) Es fehlt an umfassenden und multiperspektivischen wissenschaftlichen Analysen dieser Thematik.
erklärende/verstehende Forschungsfragen 1. Welche Ursachen hatte der Irakkrieg 2003?
2. Wie lässt sich der Entscheidungsprozess für den Irakkrieg 2003 aus Sicht der US-Administration darstellen und erklären?
deskriptive Forschungsfragen 1. Wer waren die relevanten Akteure für den Entschluss den Irak 2003 anzugreifen und anschließend zu besetzen?
2. Welche Gruppen bzw. Koalitionen bildeten sich innerhalb der Administration, um das gewünschte Ziel, nämlich eine militärische Intervention, durchzusetzen bzw. welche Koalitionen konnten sich mit ihrer Forderung nach einer alternativen Lösung nicht durchsetzen?
3. Was waren die Motive bzw. Argumente dieser Akteure und Gruppen für die Intervention und wie entwickelte sich der Diskurs im Laufe der Zeit?
4. Zu welchem Zeitpunkt wurde die Entscheidung für einen Krieg getroffen und durch wen?
5. Welche Dynamiken durchlebte der Entscheidungsprozess?
6. Gibt es Anzeichen eines defekten Entscheidungsprozesses?
Antworten Die Ursachen des Krieges liegen in individuellen Fehlwahrnehmungen und defizitären kollektiven Meinungsbildungsprozessen.

3.5 Zusammenfassung

Ziel dieses Kapitels war es zu zeigen, wie man von einem Thema über ein Puzzle zu einem Erkenntnisinteresse kommt Ich habe dabei versucht zu unterstreichen, dass politikwissenschaftliche Forschung ohne ein Puzzle keinen Sinn macht. Erst mit der Entdeckung eines Problems in Form eines Widerspruchs und/oder einer Forschungslücke ist die Relevanz für den weiteren Forschungsprozess gegeben. Durch die Formulierung eines Erkenntnisinteresses lässt sich der Untersuchungsgegenstand eingrenzen und klarer fokussieren. Dabei helfen Forschungsfragen dieses Erkenntnisinteresse präziser zu formulieren. Die Antworten auf diese Forschungsfragen können entweder bereits im Vorfeld als prognostizierte Antworten (sogenannte Hypothesen) formuliert werden, oder ergeben sich erst in Folge des Forschungsprozesses und werden dann als Thesen dargestellt.

Weiterführende Informationen

Literaturtipp und Arbeitsmaterialien

Antwort (a): Wissenschaft ist der Versuch, dem bestehenden Wissen neues Wissen hinzuzufügen. Die Aufgabe der Poblemstellung (bzw. des Puzzles) besteht darin, auf ein Problem (besser noch ‘puzzle’) hinzuweisen, also etwas, das bisher zu wenig (ausreichend) erforscht wurde oder auf einen Umstand zu verweisen, der bisher nicht oder nur unzureichend erklärt wurde. Die Problemstellung hilft also dabei, die Sinnhaftigkeit und den Mehrwert einer wissenschaftlichen Arbeit zu begründen.

Antwort (c): Deskriptive Fragen sind Fragen, die sich mit der Beschreibung von Phänomenen, also der Darstellung von Entwicklungen und Prozessen zufrieden geben. Sie versuchen nicht, den Ursachen und Details dieser Phänomene auf den Grund zu gehen. Sie sind damit erklärenden/verstehenden Fragen untergeordnet aber oft notwendig, um zu deren Verständnis beizutragen.

Antwot (a): Erklärende bzw. verstehende Fragen versuchen den Ursachen und Details von Phänomenen auf den Grund zu gehen. Es sind klassische Fragen, die mit ‘Wie’ oder ‘Warum’ beginnen. Sie sind deskriptiven Fragen übergeordnet und sollten in jeder wissenschaftlichen Arbeit zu finden sein.